Wenn ich geahnt hätte, wie befreiend es ist, die eigene Geschichte endlich allen zu erzählen und nichts mehr zurückhalten zu müssen, hätte ich es vielleicht schon eher getan. Aber mir fehlt einfach der Mut. Ich dachte, dass die Anderen ein komisches Bild von mir bekommen würden – “Das ist die Stephie, die …”. Ich war einfach nicht so weit. Natürlich kennen meine Familie und meine engeren Freunde meine ganze Geschichte. Aber es ist, wie es ist – man lernt neue Menschen kennen, aus Bekanntschaft entsteht Freundschaft und irgendwie fragt man sich – frage ich mich – , wieviel Raum die eigene Vergangenheit in dieser Freundschaft einnehmen sollte, die ja nun mal zu einem gehört. Ist es wichtig, den anderen von dem zu erzählen, was eigentlich schon länger her und und an sich ein abgeschlossenes Kapitel im Leben ist? Für mich irgendwie schon. Ich habe sonst das Gefühl, ihnen etwas von mir vorzuenthalten. Aber so oft habe ich die Kurve nicht bekommen, weil mir einfach der Mut fehlte.
Und dann bekam ich Anfang Dezember einen Anruf. Der Mann, der am Sonntag die Moderation in unserer Gemeinde übernehmen sollte, fragte mich, ob er mich im Rahmen des Gottesdienstes interviewen dürfte. Und ob ich bereit sei meine Lebensgeschichte zu erzählen. Ich weiß noch genau, wie ich hier mit klopfendem Herzen mit dem Handy am Ohr im Wohnzimmer hin und herlief und mit mir rang, welche Antwort ich ihm geben sollte. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und sagte ihm zu. Ich dachte mir: “Stephie, du kannst doch eigentlich nur gewinnen! Endlich wissen dann alle aus der Gemeinde, was du erlebt hast und musst dich nicht mehr komisch erklären.”
Der Sonntagmorgen kam und ich war aufgeregt. Ich stehe oft durch den Lobpreis, den ich leite, auf der Bühne und kann mit Aufregung an sich gut umgehen. Aber an diesem Morgen war ich so aufgeregt, dass meine Hände komplett am zittern waren. Ihr hättet mich mal beim Schminken erleben sollen… 😉 Aber wisst ihr was? Als ich von vorne begrüßt und auf die Bühne gerufen wurde, war die Aufregung von jetzt auf gleich weg. Ich konnte klar und ruhig sprechen, habe mich weder verhaspelt, noch musste ich weinen, und mit einem tiefen Frieden im Herzen stand ich am Ende wieder von meinem Interviewstuhl auf. Gott ist so gut und hat mir so geholfen an diesem Morgen! Und es hat sich gelohnt meine Geschichte zu erzählen, da bin ich mir sicher. Meine Sehnsucht in meinem Herzen war, andere Menschen damit zu ermutigen, ihnen Hoffnung zu machen, dass Gott aus komplettem Zerbruch etwas Neues schaffen kann. Auch in ihrem Leben. Egal, wie finster es gerade aussieht. An den vielen Rückmeldungen, die ich anschließend bekommen habe, habe ich gemerkt, dass es richtig war, mich zu öffnen und mich verletzlich zu machen. Für einige war es die Ermutigung, einen nächsten Schritt im persönlichen Leben zu gehen. Und deshalb bin ich nun auch hier bereit, meine Geschichte öffentlich zu machen und Einblick in mein Leben zu geben. Bist du bereit? Denn jetzt geht’s los! Das ist meine Geschichte:
Ich bin sehr dankbar, dass ich in einem christlichen Elternhaus aufwachsen durfte. Meine Eltern haben mir viele gute Werte mit auf den Weg gegeben und mir den christlichen Glauben an Jesus vorgelebt und näher gebracht. Schon als Kind habe ich Jesus in mein Herz gelassen und ihn Gott sei Dank auch nie wirklich losgelassen. In den tiefsten Tiefen meines Lebens konnte ich zwar nicht mehr beten, aber losgelassen habe ich Jesus dennoch nicht. Das allein ist schon ein Wunder für mich.
Auch wenn man das Glück hat, in einem christlichen Elternhaus aufwachsen zu dürfen, gibt es trotzdem Momente, die alles von einem auf den anderen Augenblick verändern können. Worte, die ausgesprochen werden und Macht haben, dein Leben komplett durcheinander zu wirbeln. Bei mir war das ein Tag inmitten meiner Findungsphase, inmitten meiner Suche nach meiner eigenen Identität. Als 14-/15-jährige war ich nicht selbstsicher, wusste nicht, über wen oder was ich mich definieren sollte und habe mich schnell abhängig von den Meinungen anderer gemacht. Nun kamen sie also, zwei Aussagen von verschiedenen Personen, an ein und demselben Tag: “Du hast ganz schön zugelegt! Deine Kleidung ist ganz schön eng geworden – kauf dir mal was Neues!”
Es gibt Menschen, bestimmt auch junge Leute, die über eine solche Aussage hinwegsehen können oder gelassen die Achseln zucken und sich denken: “Lass sie doch reden – ich bin gut so, wie ich bin.” Chapeâu, wenn du das im jungen Alter sagen kannst! Ich konnte es nicht! Stattdessen traf ich eine für mich folgenschwere Entscheidung: Ich würde abnehmen, bis ich wieder schlank genug war! (By the way – dick war ich nie…). Und natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, wodurch man Gewicht verlieren kann. Ich habe mich damals für die Variante “Bulimie” entschieden. Die Sucht begleitete mich in Summe über 12 Jahre, und wer schon mal in einer Sucht gefangen war, der weiß, wie schwer es ist, sich davon wieder zu befreien. Man ist regelrecht abhängig, und letztlich schafft man es nur davon wegzukommen, wenn man es wirklich von ganzem Herzen will und sich von Jesus heilen lässt. Nicht, dass ich jeden Tag vor der Kloschüssel gehangen hätte. Aber immer wenn es schwierig wurde in meinem Leben, war die Bulimie mein Ventil, um mit meinen Problemen irgendwie umgehen zu können. Es gab also Phasen in meinem Leben, in denen ich halbwegs für Wochen oder Monate klarkam und dann wiederum Phasen, in denen ich mir im wahrsten Sinn des Wortes die Seele aus dem Leib gekotzt habe.
Nach dem Abitur wollte ich gerne Musik studieren. Ein Traum, den ich schon lange hatte und der sich mit einer gelungenen Aufnahmeprüfung auch erstmal realisieren ließ. Ich zog von daheim aus und in eine 2er WG ein. Leider wohnte ich mit einer jungen Frau zusammen, die unter Magersucht litt. Keine gute Kombi für mich, die ich selbst ja mit Essstörungen zu kämpfen hatte… Dazu kam ein Studium, dass mich komplett überforderte, mich extrem unter Druck setzte und mir vor allem die Freude an der Musik nahm. Ich glaube, ich hätte das Studium gut bewältigen können, wenn ich mir selbst nicht so viel Druck gemacht hätte. Aber ich war und bin von meinem Typ her ehrgeizig und auch perfektionistisch, und schon nach kurzer Zeit fehlte mir einfach die innere Gelassenheit. Ich erinnere mich an extreme Bulimiephasen und den Moment, an dem ich mir endlich Hilfe holte, mein Studium nach einem Urlaubssemester endgültig abbrach und in eine andere WG umzog. Der Traum war vorbei. Und ich stand mit leeren Händen da, wusste nicht, was ich mit mir und meinem Leben anfangen sollte, war frustriert, meinen eigenen und anderen Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein. Ich saß beim Arbeitsamt und überlegte krampfhaft, was ich außer Musik mit meinem Leben anfangen könnte.
Letztlich machte ich in den folgenden Jahren eine Ausbildung zur Industriekauffrau bei Daimler und versuchte mein Leben irgendwie im Griff zu haben. Das gelang mal mehr, mal weniger gut. Nach Ausbildungsende zog ich in den Süden nach Stuttgart, da das Bremer Werk aufgrund konjunktureller Herausforderungen keine Auszubildenden längerfristig übernahm. Hier in Stuttgart bekam ich bei Daimler einen unbefristeten Arbeitsvertrag und eine tolle Arbeitsstelle. Aber dafür betrat ich komplettes Neuland: neue Stadt, erste Arbeitsstelle, keine Freunde (bis auf eine Freundin, die ich viele Jahre zuvor im Urlaub kennengelernt hatte). Ich war überfordert. Und versuchte es mal wieder mit meiner Bulimie zu kompensieren.
Nach einem knappen halben Jahr in Stuttgart wurde ich Opfer eines sexuellen Übergriffs. Ich verdrängte alles, so gut es eben ging und versuchte mein Leben irgendwie weiter zu leben und zu bewältigen. Das ging auch erstmal ganz gut und nach außen hin verbarg ich meinen seelischen Schmerz. Ich hatte gelernt zu funktionieren! Und dann flüchtete ich mich in die Arme eines Mannes, bei dem ich Schutz suchte und heiratete ihn völlig überstürzt und aus völlig falschen Motiven. Ich war essgestört und seelisch krank, ich brachte inneren Zerbruch mit in diese Ehe, und ich war zu dem Zeitpunkt alles andere als beziehungsfähig. Bereits wenige Wochen nach der Hochzeit bekam ich starke Ängste und Depressionen. Panikattacken folgten. Ich konnte nicht mehr ohne Licht schlafen. Ich wurde gegen mich selbst aggressiv und fügte mir selbst Schaden zu und zerbrach und zerriss Brillen, Pullis und etliches mehr. Ich hörte auf zu essen und erbrach das Wenige, das ich noch aß, wieder. Ich wurde dünner und dünner. Wenn ich vorher mein schlankes Gewicht durch das Erbrechen gehalten hatte, wurde ich nun magersüchtig. Nach einer Geschäftsreise nach Frankreich brach ich schlussendlich zusammen. Ich konnte nicht mehr arbeiten und ließ mich bis auf weiteres krankschreiben.
Mein Tiefpunkt war der Tag, an dem ich auf einer S-Bahn-Brücke stand und meinem Leben ein Ende bereiten wollte. Mein damaliger Mann fand mich rechtzeitig. Es folgte die Einweisung auf die geschlossene Station der Psychiatrie. Ich war dort nur für eine Nacht untergebracht, aber das war schlimm genug! Ich war am Ende… viel schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Kurze Zeit später bekam ich einen Platz in der Klinik Hohe Mark, eine christliche Klinik im Taunus. Dort verbrachte ich ein sehr dunkles Weihnachten und insgesamt 10 Wochen. Diese Wochen waren hart. Ich wurde auf Medikamente eingestellt, die mich nicht mehr ich selbst sein ließen. Ich musste auf einmal essen, und zwar viel und ständig! Mein traumatisches Erlebnis kam mit voller Wucht wieder an die Oberfläche. Ich war herausgefordert mit Dämonen, die mich höhnisch angrinsten und mich starr werden ließen vor Angst. Ich fühlte mich unglaublich elend und allein. In dieser Zeit habe ich eine Frau kennengelernt, die mir bis zum heutigen Tag eine gute Freundin ist. Wir haben uns im tiefsten Leid und Zerbruch kennengelernt. Jede von uns brachte ihre Geschichte mit. Das ist das, was uns verbindet. Und so viel mehr. Wenn ich an die Zeit in der Klinik denke, denke ich auch an meine Freundin. Sie war für mich ein Licht, das Gott mir in dieser dunklen Zeit geschenkt hat. Viele Wochen teilten wir gemeinsam ein Zimmer, hörten oder sahen den anderen weinen oder waren einfach nur gemeinsam still.
Als ich entlassen wurde, kämpfte ich mich zurück in meinen Alltag. Ich lernte meine Angst zu überwinden und wieder S-Bahn zu fahren, Menschen gegenüber zu treten und normal und regelmäßig zu essen, ohne anschließend Abführmittel zu nehmen oder zu erbrechen. Nachdem ich ein ganzes halbes Jahr krankgeschrieben war, musste ich nun auch beim Daimler beweisen, dass ich kein Psychofreak war, sondern eine junge Frau, die trotz persönlicher Probleme fähig war, gute Arbeit zu leisten. Dies gelang mir auch ganz gut. Aber mein Alltag daheim hielt der ganzen Belastung nicht stand. Ich war nicht fähig diese junge Ehe zu leben. Neben Themen, die auch mein damaliger Mann mit in die Ehe brachte, war ich trotz paralleler Therapie nicht fähig, allen Herausforderungen nach meinen Erlebnissen gerecht zu werden. Heilung geschieht nicht über Nacht. Ich wurde rückfällig, begann wieder zu erbrechen und neigte auch wieder zu Depressionen. Und schließlich stand ich nach nur zwei Jahren Ehe vor dem völligen Zerbruch und auf meiner Stirn prangerten die Worte: GESCHEITERT – in allem!
Bulimie, Vergewaltigung, Scheidung. Was sollte noch kommen in meinem Leben!?! Konnte es noch schlimmer kommen? Nein. Das war wirklich genug. Stattdessen sollten in der folgenden Zeit Wunder über Wunder kommen. Denn hey – wir haben es mit einem Gott zu tun, der Wunder tut! Der aus Scherben und Zerbruch etwas Neues und Wertvolles entstehen lassen und kreieren kann. Durch Gottes grenzenlose Liebe und Gnade durfte ich eine Frau kennenlernen, die für mich ein Stück Himmel auf Erden war. Eine Frau, die mir zeigte und mich spüren ließ, dass sie mich lieb hatte, die mich nicht verurteilte und bei der ich so sein durfte, wie ich bin. Diese Frau half mir, meine Geschichte aufzuarbeiten und zu verarbeiten. Sie half mir an den Punkt zu kommen, mir selbst zu vergeben und dem Menschen zu vergeben, der mir Schlimmes angetan hat. Sie sprach Wahrheit in mein Leben hinein. Ihre Liebe zu Jesus sah ich in ihrem Blick, hörte ich in ihren Worten. Während ich mit ihr sprach, sie für mich betete und mich anleitete Dinge vor Gott auszusprechen, erlebte ich Stück für Stück Heilung an meinem Körper, meiner Seele und meinem Geist. Ich erlebte in diesen Jahren, in denen ich bei ihr war, völlige Wiederherstellung und Heilung. Und wenn ich Gott für eins im Leben wirklich dankbar bin, dann dafür, dass ich diese Frau kennenlernen durfte.
Es kam der Tag, an dem ich am nächsten Tag wieder für einen Termin zu ihr gefahren wäre. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich dachte: “Eigentlich brauche ich den Termin bei ihr gar nicht mehr. Ich fühle mich “fertig”. Ich glaube, ich kann nun alleine weiter durchs Leben gehen.” Ein paar Stunden später klingelte mein Telefon: Die alte Dame (sie war Anfang 70), bei der ich die letzten Jahre regelmäßig war, war gestorben. Von jetzt auf gleich. Sie kam mit akuten Magen- und Rückenschmerzen in die Klinik und verstarb nur vier Tage später an unentdecktem Magenkrebs. Welch eine Gnade, dass diese liebenswerte und geisterfüllte Frau erst von dieser Erde ging, als mein Leben wieder hergestellt war. Wie sehr muss Jesus mich lieben, dass ich mich “ready” fürs Leben gefühlt habe – ja mich geheilt gefühlt habe, bevor sie heimging zu Jesus. Natürlich war ich traurig über diesen Verlust… sie war für mich DAS Geschenk des Himmels. Ich werde sie nie vergessen und sie wird immer einen Platz in meinem Herzen haben. Aber gleichzeitig war ich Gott so unglaublich dankbar, dass sie nicht schon etliche Zeit früher Beschwerden bekommen hat und ins Krankenhaus hat kommen müssen. Ich kann nur staunen über Gottes Liebe und Güte und sein Timing für mein Leben.
Gottes Gnade habe ich es zu verdanken, dass ich kurze Zeit nach dem Tod meiner Therapeutin mit meinem heutigen Mann zusammengekommen bin. Denn Gott ist ein Gott der zweiten Chancen. Genial oder? Letztes Jahr durften wir 10 Jahre Ehe feiern und freuen uns über unsere Söhne, die 9 und 7 Jahre alt sind. Spuren meiner seelischen Verletzungen und Erlebnisse gibt es keine mehr. Essen kann ich seit vielen Jahren mit Genuss. Gedanken an Erbrechen habe ich maximal noch bei einem Magen-Darm-Virus. 😉 Gott hat mich komplett geheilt – in allem! Ein Wunder, für das ich Jesus so unendlich dankbar bin!
Im letzten Jahr bin ich an dem Punkt angelangt, dass ich meine persönliche Geschichte nutzen möchte, um Gutes daraus entstehen zu lassen. Ich habe ein so großes Herz für alle jungen Menschen, die sich quälen mit Essstörungen. Ich wünsche mir so sehr, etwas mit meiner Geschichte bewegen zu können. Ich möchte aufstehen und Mut und Hoffnung auf Heilung aussprechen. Heute morgen saß ich im Gottesdienst und hatte den Eindruck, dass Jesus zu mir sagt: “Am Ende des Jahres wirst du staunen und mich unter Tränen preisen, was ich Großes getan habe!” Ich bin so gespannt, was Gott durch mein Leben tun möchte. Ich bin bereit aufzustehen und loszugehen.
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